Die Elektropop-Band “Welle: Erdball” begeisterte auf dem Amphi Festival mit einer ausgefallenen Bühnenperformance
Dass das Amphi Festival als eines der größten Festivals der schwarzen Szene zugleich mehrere Stilrichtungen der Subkultur vereint, fällt dabei erst auf den zweiten Blick auf oder ist gar nur für Szenekenner ersichtlich. Tatsächlich aber verstehen die Goths unter “Gothic” nicht zwangsläufig dasselbe. Während die einen auf den typischen Gothic-Rock von Bands wie Blutengel, Samsas Traum oder Feuerschwanz stehen, bevorzugen die von Dr. Mark Benecke liebevoll genannten “Elektro-Gruftis” eher knallharte elektronische Klänge von Nachtmahr, Project Pitchfork oder Faderhead – und das, obwohl so mancher Song schon mehr an Techno als an Gothic erinnern mag. Wieder andere sind ganz oldschool elektronisch veranlagt und feiern zu den EBM- und Elektropop-Songs von Nitzer Ebb oder Welle: Erdball, wenn sie sich nicht gerade den treibenden Beats der schwedischen EBM-Pioniere “Spark!” hingeben.
Mit einer solchen Mischung gelang es dem Amphi Festival auch in diesem Jahr wieder alle Stilrichtungen des Gothics zu vereinen, was sich natürlich auch im optischen Erscheinungsbild der Besucher widerspiegelt. In der schwarzen Szene geht es schließlich schon seit je her auch um “Sehen und gesehen werden”. Reicht es so manchem Fan noch aus, sich schlicht mit einem schwarzen T-Shirt zu kleiden, lassen sich andere in aufwändigen und schicken schwarzen Kleidern blicken, schlüpfen in selbstgemachte Steampunk-Kostüme oder setzen sich als Cyber-Goth bunte Plastikhaare auf, um die schwarze Subkultur mit einem futuristischen Auftreten zu kombinieren. Ganz zu schweigen von echten Kostümen, bei denen sich einzelne als Teufel oder Engel verkleiden, sich mit Kunstblut beschmieren oder gar einem für Außenstehende vermutlich befremdlich wirkenden Uniformfetisch nachgehen. Nur eines steht fest: So richtig normal gekleidet, wie im üblichen Alltag, ist hier eben niemand so wirklich – was auch immer wieder Schaulustige an der Rheinpromenade anzieht, die die düsteren Gestalten auf dem Weg zwischen Tanzbrunnen und Schiff bestaunen wollen.
Die MS Rheinenergie wurde für die 3. Bühne (Orbit Stage) des Festivals genutzt
So abwechslungsreich die Kostüme, so abwechslungsreich sind aber auch die Auftritte der Bands: Hervorstechen konnte da etwa die Elektropop-Band “Welle: Erdball” rund um Hannes Malecki, die sich mit ihrer langjährigen Erfahrung seit den 1990er Jahren immer wieder ein neues Bühnenbild einfallen lässt und auf dem Amphi Festival mit zahlreichen Schaufensterpuppen, Roboterkostümen und sogar einem Commodore C64 aufgetreten ist. Kommen kurz nach ihrer Eigeninterpretation des Kraftwerk-Songs “Wir sind die Roboter” dann auch noch Anspielungen an die britische Kultserie “Doctor Who” hinzu, in dem sich Frontmann Malecki für die Mitfahrt in der “Welle Erdball Tardis” bedankt, sind die Nerds und Geeks unter den Goths sowieso mehr als begeistert.
Weniger nerdig, dafür aber kontrovers fiel hingegen der Auftritt der nicht ganz unumstrittenen Aggrotech-Band “Nachtmahr” als Finale des Amphi Festivals aus, während die Mittelalterband “In Extremo” auf der Main Stage mit Pyrotechnik einheizte. Die Band “Nachtmahr” rund um Thomas Rainer mit ihren extrem harten technoiden Klängen tritt schließlich mit abgewandelten Kriegsuniformen, österreichischen Flaggen und einem selbsternannten “Tanzdiktator” auf, der dem Publikum in der Theater Stage so sehr einheizte, dass mancher danach mit einem kleinen Tinnitus nach Hause ging. Von Kritikern mehr als einmal in die rechte Ecke gestellt, betrachtet Thomas Rainer das Erscheinungsbild der Band jedoch eher als “provokative Kunst”, wie sie in der schwarzen Szene keineswegs unüblich ist – und selbst Dr. Mark Benecke, der auf dem Amphi Festival als Moderator auftrat, schien offenbar Fan des Österreichers zu sein. Doch kein Wunder: Ein bisschen Satire und Selbstironie gehört zu den Auftritten, die oftmals auch mit einem Uniformfetisch spielen, eben auch dazu. Nicht umsonst lautet ein Sprichwort der schwarzen Szene: “Use your brain and think about it”.
Bei Samsas Traum wurde es rockig auf dem Amphi Festival
Kostüme aber spielen bei den Bands schließlich eine ebenso große Rolle, wie beim Publikum: Die Schweden “Spark!” brachten die MS Rheinenergie etwa mit Clownskostümen zum beben, die etwas unbekanntere Band “Fix8:Sed8″ schnappte sich gleich ein gruseliges Vogelscheuchen-Kostüm und bei “Blutengel”, die zu einer der beliebtesten Bands der Szene zählen, durften beflügelte Engel und Nonnen natürlich nicht fehlen, wenn sie ihre zum Teil religionskritischen Songs zum Besten gaben. Das passt unterdessen auch inhaltlich recht gut, denn wenn eines in der schwarzen Szene stets eine wichtige Rolle spielte, dann das Schwimmen gegen den Strom. Anders sein, gegen gesellschaftliche Konventionen verstoßen und grundsätzlich das gesamte Leben zu hinterfragen, macht nicht nur einen Großteil der Lebensphilosophie der schwarzen Szene aus, sondern ist oftmals auch Teil der Lyrics der Songs. Die “Tiempos de furia”, die Zeiten der Wut, wie es die mexikanische Band Hocico so gern ausdrückt, werden in der Gothic-Szene eben so schnell nicht vorbei sein.
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