Wenn bereits zahlreiche Goths das Innere der Leipziger Straßenbahnen in schwarz färben, beginnt das Wave-Gotik-Treffen am Freitag traditionell mit dem Viktorianischen Picknick im Clara-Zetkin-Park. Tausende Menschen strömen in die Parkanlage, um die aufwändigsten und eindrucksvollsten Outfits auszupacken. Das tausende Euro teure Kleid wird da genauso getragen, wie Steampunk-Gewandungen oder aus Moosgummi selbst hergestellte schwarze Flügel. Das Viktorianische Picknick ist das Gothic-Treffen in Extravagant. Dort, wo die Goths endlich einmal die Gelegenheit haben, all jene Gewänder zu tragen, die für die enge Konzerthalle zu ausgefallen sind. Schaulustige lockt das natürlich auch an, denn die Outfits zu bestaunen, macht selbst den Einheimischen aus Leipzig Spaß, die nicht Teil der Szene sind. Die gewöhnliche Kleidung für Clubs und Konzerte ist das aber nicht, den vermeintlich “echten” Anblick der Szene, findet man dann doch eher in einer der zahlreichen Konzertlocations, die sich überall in der Stadt wiederfinden.
Leichenwagen und eindrucksvolle Outfits: Das gibt es im Clara-Zetkin-Park zu sehen
Das Täubchenthal beispielsweise ist bekannt dafür, dass sich die Szene hier mit ihrer typischen Disco-Kleidung trifft. Und das kann je nach Tag sogar mal ein bisschen abweichen: Wenn am Freitag und Samstag eher die Post-Punk-Bands auf der Bühne stehen, sind die Goth-Punks und Batcaver mit ihren hochtoupierten Haaren und ihren schwarz-punkigen Klamotten nicht weit. Gibt es dann am Sonntag hingegen plötzlich Noise und Electro, lockt das eine ganz andere Zielgruppe innerhalb der Szene an: Die Cybergoths mit ihren bunten Cyberlox aus Plastik und Moosgummi strömen ins Täubchenthal und beweisen, dass dieses “Subgenre” innerhalb der Szene – entgegen mancher Behauptungen – längst nicht ausgestorben ist. Und die restlichen Besucher: Schwarz, Nietenhosen, silberne Ketten, Netzstrümpfe, manchmal auch ein typisches BDSM-Halsband – ob als reinen Schmuck oder nicht – dominieren da insgesamt die Optik der Szene.
Aber die schwarze Szene hat eben auch einen speziellen (guten) Geschmack, der von hartem Electro über Metal bis hin zu Klassikern der 80er Jahre reicht. Dass der Synthpop da bekanntlich dazu gehört, dürfte spätestens seit Depeche Mode und VNV Nation klar sein. Verwundert dürften Außenstehende womöglich darüber sein, dass auch die 80er Popband Alphaville offenbar ihren Platz in der Gothic-Szene findet. Mit ihrem größten Hit “Forever Young” würde man sie vermutlich eher im Mainstream verorten wollen. Die Goths aber lieben oldschool Synthieklänge – und zwar so sehr, dass an der Main Stage in der Agra Messehalle sogar ein Einlassstopp notwendig war, da der Andrang derartig groß war. Ein bisschen mehr Platz gab es dann gleich danach bei Kite, die mit ihrer eindrucksvollen Light- und Lasershow und ihrem experimentellen Sound aber trotzdem die Halle recht gut füllen können.
Cybergoths gehören seit vielen Jahren zur Szene – und sind eher bei elektronischer Musik anzutreffen
Abseits der Musik gab es aber auch in den darauffolgenden Tagen noch reichlich Programm. Entgegen den Behauptungen des MDR, Goths würden niemals rennen, findet auf dem WGT nämlich jedes Jahr auch der Gothic Run statt – ein Marathonlauf, an dem die Szene natürlich in stilechter Kleidung teilnimmt. Hinzu kommen Stummfilme mit Kinoorgel, Orgelkonzerte in einer Kirche oder sogar eine Demonstration, obwohl sich die Veranstaltung sonst unpolitisch gibt: Am Samstag Morgen gab es nämlich ein Leichenwagentreffen im Clara-Zetkin-Park, das anschließend mit einem Autokorso Richtung Südfriedhof fuhr – als Demonstration zum Erhalt traditioneller Leichenwagen, die immer häufiger durch stillose Sprinter ersetzt werden. Dabei nehmen traditionell auch zahlreiche echte Bestatter teil. Ob Bestatter aber nun durch ihren Beruf in die Szene finden, oder Goths doch eine Vorliebe für diese morbide Berufswahl haben, bleibt dabei unklar. Aber um Tod und Vergänglichkeit geht es bei der dunklen Romantik doch immer.
Romantisch geht es in der schwarzen Szene allerdings nicht immer zu, vor allem, wenn die härtere elektronische Musik auf der Bühne spielt. Die Genres des Aggrotech und EBM sind immerhin auch fester Bestandteil der Szene – und da scheppert im wahrsten Sinne der Fußboden. Ob bei den etwas derberen Texten von Centhron im Stadtbad oder irgendwo zwischen Funker Vogt, Protokoll 19 oder Pouppee Fabrikk, die auf dem WGT ihre Reunion feierte. Bei der einen Band wird es militärisch angehaucht, bei der nächsten darf ordentlich im Gleichschritt gestampft werden und wieder andere laden zum sogenannten “Industrial Dance” ein, für den die Cybergoths schon seit vielen Jahren bekannt sind.
Eine der beliebtesten Bands 2025: Camouflage mit ihrem Hit “The Great Commandment”
Dabei ist sogar durchaus immer wieder erstaunlich, wie es dem Wave-Gotik-Treffen gelingt, eigentlich längst aufgelöste Bands wieder auf die Bühne zu holen. Calva Y Nada zum Beispiel haben sich eigentlich schon vor gefühlt 20 Jahren aufgelöst, seitdem auch keine neue Musik mehr veröffentlicht. Nur sporadisch kommen sie noch einmal zusammen, um ihre alten Songs erneut auf der Bühne zu performen. So auch am Sonntag Abend im Haus Leipzig, wo sich die Besucher schnell fühlten, wie in den 90er Jahren. Zeitgleich ebenfalls ein Comeback: Silke Bischoff traten auf der Main Stage in der Agra auf, um auch hier die alten Songs wiederzubeleben. Nach dem Tod des ursprünglichen Sängers Felix Flaucher eher kontrovers von der Szene aufgenommen, begeisterte die Tribute Show von Alexander Veljanov (Deine Lakaien) und Sven Friedrich (Solar Fake) als neues Duo dann doch das Publikum.
Für Highlights aber ist das WGT bekannt – und ebenso dafür, Bands auf die Bühne zu holen, die bei den anderen großen Festivals oftmals vernachlässigt werden. Dass der “Never not dancing song”, wie ihn manche liebevoll nennen, da auch nicht fehlen durfte, war dann doch klar: Die Amerikanerin Shannon Funchess kam als Light Asylum nach Leipzig, um nicht nur ihren größten Hit “Dark Allies” zu performen, der auf Gothic-Partys seit über 10 Jahren hoch und runtergespielt wird. Und auch Sängerin Mona Mur, die gemeinsam mit En Esch in der Kuppelhalle des Volkspalast spielten, waren wohl eine kleine Besonderheit – auch wenn die Konkurrenz von Camouflage groß war. Die “kleineren Depeche Mode”, wie sie auch mal scherzhaft genannt werden, traten mit ihrem Hit “The Great Commandment” nämlich fast zeitgleich auf der Main Stage auf.
Gothic, Mittelalter und Punk: Dass das zusammengehört, zeigen Totentanz Strumpfsockig im Heidnischen Dorf
Und dann die beiden großen Überraschungen, mit denen anfangs vermutlich erst niemand gerechnet hat: Das Wave-Gotik-Treffen hat als Headliner gleich zwei Post-Punk-Legenden eingeladen. So durften sich sowohl Ex-Sänger der Sex Pistols John Lydon aka Johnny Rotten mit Public Image Ltd., kurz PIL die Ehre geben, aber auch niemand geringeres als New Model Army. An unterschiedlichen Tagen bekamen die beiden Bands das Nacht-Special, um möglichst konkurrenzlos in der Agra auftreten zu können. Während PIL wegen seiner Punk-Attitüde des Rotzens auf die Bühne von vielen Besuchern als “schwierig” bezeichnet wurden, rockten New Model Army als verdienter Abschluss-Headliner dann umso mehr die Halle.
Unterdessen kamen allerdings auch die Fans der Mittelalterszene, die man doch irgendwie als mit den Goths befreundet betrachtet, auf ihre Kosten. Das Heidnische Dorf ist schließlich auch immer einen Besuch wert und hatte an allen vier Tagen nicht nur einen gemütlichen Mittelaltermarkt zu bieten, sondern auch dort noch weitere Live-Musik auf der Bühne. Neben Letzte Instanz, die sich gerade auf Abschiedstour vor ihrer Auflösung befinden und daher zahlreich gefeiert werden, überzeugten dort etwa auch Totentanz Strumpfsockig, denen es erfolgreich gelungen ist, Gothic, Mittelalter und Punk tatsächlich zu kombinieren – sowohl in ihren Outfits, als auch ihrer Musik.
>
Spektakuläre Lichtshow: Die Light- und Lasershow von Kite ist ebenso experimentell, wie ihre Musik
Aber ihr denkt jetzt, ein derartig langer Artikel sei bereits alles, was das Wave-Gotik-Treffen zu bieten hat? Mitnichten. Das riesige Gothic-Event in Leipzig bietet dermaßen viel Programm, dass es schier unmöglich ist, alles davon zu sehen. Manche Programmpunkte sind gar so besonders, dass selbst langjährige Besucher erst nach Jahren von ihnen erfahren. Ihr denkt, das müsst ihr auch mal sehen und mal dabei sein? Dann merkt euch bereits das Datum für Pfingsten 2026, denn dann wird das WGT auch im kommenden Jahr erneut stattfinden. Sogar die Vorab-Anreise lohnt sich, denn bereits Donnerstag erwarten den Besucher viele aufregende Pre-Partys der unterschiedlichen Genres. Und das seltene Gefühl, als Goth für vier Tage endlich einmal zu den “Normalen” zu gehören, ist sowieso unbeschreiblich. 4 Tage mit einer Stadt komplett in schwarz, an denen die Gothic-Outfits plötzlich zur normalen Kleidung gehören.