Den weitesten Anreiseweg dürften zweifelsohne die beiden Mexikaner von Hocico gehabt haben, die schon zu den Größen der elektronischen schwarzen Szene gehören. Gekleidet wie ein Gothic-Schamane schmückt eine Knochenkette das düstere Outfit von Sänger Erk Aicrag (bürgerlich Eric Garcia), Totenköpfe zieren das Mikrofonstativ und Racso Agroyam (Oscar Mayorga), der ein bisschen Ähnlichkeit mit Kim Jong-Un aufweist, sorgt im Hintergrund für den harten, oft spanischsprachigen Aggrotech-Sound. “Hocico” heißt auf deutsch so viel wie “Schnauze!” und der aggressive Tonfall ist bei der Band zugleich Programm. Die Songs handeln nicht selten von der Hölle, dem Tod und anderem Leid. Für die Cybergoth ist das der richtige Sound, um mit ihrem sogenannten Industrial-Tanz das Tanzbein zu schwingen. Zum Tod kann man schließlich am besten tanzen.
Hocico aus Mexiko heizten das Publikum ein
Ganz andere Töne gab es zuvor etwa von der Münchner Band Rue Oberkampf, die zahlreiche ihrer Melodien mit französischem Gesang begleiten. Die musikalische Stilrichtung ist noch recht neu im Bereich des elektronischen Goth und findet doch immer mehr Anhänger. Eine Art Mischung aus Dark Wave, Synthpop und eindringlicher Frauenstimme sorgen für düster-melodischen Sound. Mit dieser neuen Form der “neuen elektronischen Todeskunst” begeisterten in den vergangenen Jahren auch schon junge Bands wie Oberer Totpunkt oder NNHMN. In Zukunft dürfte sie fester Bestandteil auf Festivals der schwarzen Szene werden.
Die “alten Hasen” der Szene gab es dafür reichlich und wurden vom Publikum so sehr gefeiert, dass das Festival in diesem Jahr bereits vorzeitig ausverkauft war. Dazu gehören etwa Aesthetic Perfection rund um Sänger Daniel Graves, die mit neueren Songs inzwischen etwas rockiger unterwegs sind. Für das E-Tropolis Festival hatten sie extra nochmal ein oldschool Electro-Set vorbereitet, um überwiegend Songs aus ihren ersten Jahren zu spielen. Songs wie den 16 Jahre alten “The Great Depression” lieben die Fans der ersten Stunde noch heute. Auch Headliner Mesh haben auf der Main Stage ihr Set ein wenig angepasst: So spielten die Briten zwar viele ihrer üblichen Hits wie “Kill your darlings” oder “Runway”, der Sound schien dabei aber deutlich rockiger und härter abgemischt. Beim Publikum, das den sonst eher “chilligeren” Sound der britischen Synthrock-Band gewohnt ist, sorgte das für einige erstaunte Reaktionen – aber offenbar auch für großen Gefallen.
Aesthetic Perfection mit einem klassischen elektronischen Set und vielen Songs aus der Anfangszeit
Dass die schwarze Szene selbst im elektronischen Bereich noch eine gewisse Vielfalt zu bieten hat, wurde unterdessen vor Bühne 2 deutlich: Pogo bei einem Electro-Festival? Damit rechnete wahrlich nicht jeder Besucher, weswegen der Moderator das Konzert auch kurz unterbrach, um auf etwas Rücksichtnahme hinzuweisen. Zur Electronic Body Music, kurz EBM, geht die Menge aber ein bisschen anders ab: Während die Cybergoth ihren Industrial-Tanz zu Aggrotech tanzen, gibt es beim EBM abwechselnd Pogo und “Marschiertanz” im Gleichschritt. Der EBM ist dabei so etwas wie der “elektronische Punk”, hat er seinen Ursprung immerhin in der Post-Punk-Szene. Und Bands wie Spetsnaz, die übrigens aus Schweden und nicht aus Russland kommen, oder Orange Sector lieferten den passenden Sound dafür. Selbst nach 20 Jahren ist Spetsnaz’ Oldschool-EBM-Song “Apathy” noch ein Club-Hit in den schwarzen Discotheken. Und Orange Sector hat mit dem Social Media-Hit “Farben” ohnehin längst ganz Tiktok erobert und dabei unerwartet viele Anhänger im Mainstream gefunden.
Der eigentliche Publikumsliebling jedoch, machte sich während dem Auftritt von Spetsnaz bereits auf der Main Stage bereit: Keine andere Band wird auf Festivals wie dem E-Tropolis und dem Amphi Festival häufiger gewünscht, als Solar Fake mit Sänger Sven Friedrich. Der Sound ist ein bisschen ruhiger, Synthpop der melodischen Art. Die Besonderheit aber ist und bleibt die außergewöhnliche Stimme von Sven Friedrich, die so auf der Welt wohl kein zweites Mal zu finden ist. Das macht die Musik der Band mit Hits wie “Under control” einzigartig. Und was die Fans lieben, sollen sie natürlich auch geliefert bekommen.
Fast noch Newcomer: Rue Oberkampf mit einem speziellen düster-melodischen Sound
Für das kommende Jahr gilt dieses Vorhaben übrigens wohl auch: Für das nächste E-Tropolis im Jahre 2026 hat der Veranstalter bereits erste Bands angekündigt. Die Synthpop-Band Welle: Erdball mit ihrem außergewöhnlichen C64-Sound gilt als erster Headliner für den 28. März 2026. Daneben dürfen die Szenegrößen Combichrist ein elektronisches Set abliefern und auch vergleichsweise junge Acts wie Ultra Sunn und Fix8:Sed8 bekommen eine Bühne auf dem nächsten E-Tropolis, während Zweite Jugend wieder die klassischen EBM-Fans begeistern darf und Vanguard ihre Fans mit Electropop versorgen. Tickets gibt es für 73 Euro unter amphi-shop.de.
Fotos: Rene Daners