Für Erstaunen sorgte so mancher Künstler an diesem Abend immer wieder, denn nicht wenige der Zuschauer haben den ein oder anderen Act zum ersten Mal live gesehen – oder hatten vielleicht sogar gar nicht mehr auf dem Schirm, dass die jeweilige Band nach 30 Jahren noch immer aktiv auf der Bühne steht. Jenny Berggren etwa machte am Samstag, den 26. März 2022 den Anfang: In den 1990er noch mit ihrer Band “Ace of Base” und dem berühmten Titel “All That She Wants” weltweit berühmt, hat sich die Gruppe eigentlich inzwischen aufgelöst. Berggren ließ es sich trotzdem nicht nehmen, einfach Solo auf die Bühne der Veltins Arena zu kommen und die bekannten Hits von Ace of Base kurzerhand auch alleine zu singen. Damit war klar: Die Party kann definitiv losgehen.
Nach den ersten Acts wurde dann auch klar, wieso Fotografen an diesem Tag nicht in den Bühnengraben durften: Die 90er live hatte die größte Pyrotechnik aufgebaut, die die Veltins Arena in ihrer Geschichte jemals gesehen hat. Etliche Flammenwerfer warfen Feuer senkrecht in die Höhe, Funken sprühten sowohl vom Boden, als auch von der Decke herab, Konfettikanonen ließen das Publikum im Spielgeld-Regen ertrinken und selbst richtige Feuerwerksbatterien, die wir sonst eher von Silvester kennen, waren im Bereich der Bühne aufgebaut. Und das alles nicht nur dort: Im gesamten Innenraum des riesigen Stadions verteilt fand sich Pyrotechnik, die die komplette Arena eindrucksvoll einheizte. Für die erste Großveranstaltung nach Corona hat der Veranstalter so einiges aufgefahren.
Das kam dann bereits am Nachmittag bekannten Künstlern wie Haddaway und Dr. Alban zugute, die bei der 90er live auf Schalke tatsächlich gemeinsam auf die Bühne traten – und ihre Songs kurzerhand zusammenmixten. Da durfte ein “What is love?” genauso wenig fehlen, wie Dr. Albans kultiges “It’s my life”. Für Fans der 90er Musik allerdings durchaus irritierend: In den Gesangsqualitäten unterschieden sich Haddaway und Dr. Alban offenbar deutlich, was ihre Fans umso mehr dann wahrnahmen, wenn beide praktisch gleichzeitig und parallel auftraten. Überzeugte Haddaway als erfahrener Entertainer mit sicherer Gesangsstimme, hatte Dr. Alban seine besten Zeiten offenbar schon hinter sich. Aber sei es drum: Wenn 2 Unlimited gleich danach mit ihrem “Jump for Joy” auftraten, war die Stimmung sogleich wieder gerettet.
Zwischendurch sorgte ein deutscher Comedian, der auch, aber nicht nur aus den 90ern bekannt ist, für gute Unterhaltung: Matze Knop übernahm höchstpersönlich die Moderation in den Pausen, während die nachfolgende Band auf ihren Auftritt wartete und Christian Schall als DJ im Hintergrund die Beschallung aufrecht erhielt. Und eine 90er Party wäre nun einmal keine 90er Party, wenn nicht auch Matze Knop selbst einen denkwürdigen Auftritt hingelegt hätte: Als Comedian ist er sich schließlich für keine Albernheit zu schade, weswegen er nach fast 30 Jahren noch einmal in das Superman-Kostüm schlüpfte und eine rund 30-minütige Schlagermusik-Einlage in seiner alten Rolle als “Supa Richie” hinlegte. Spaßiger Schlager-Trash wie “Super Richie kommt zu dir gefliegt” gehörte da natürlich selbstverständlich dazu.
Dass die 90er allerdings auch ganz anders aussehen können, das zeigte uns dann die völlig abgedrehte Country-Eurodance-Gruppe Rednex aus Schweden. Auf einmal sah das Publikum nicht nur erstmals richtige Instrumente auf der Bühne, sondern auch noch eine Band, die hyperaktiv und aufgedreht über die Bühne hüpfte und dabei die gesamte Breite für sich in Anspruch nahm. Gekleidet im heruntergekommenen Western-Look, mitunter mit freiem Oberkörper und der Geige in der Hand wurden Klassiker wie “Cotton Eye Joe” in Windeseile zu einem Highlight der Veranstaltung, das man so schnell nicht mehr vergessen wird. So aufgedreht, wie Rednex hier die Party steigen ließ, wurden dann sogar Tänzerinnen, die eigentlich gar nicht zur Band gehörten, prompt für den verrückten Auftritt eingespannt. Und wenn die Frontsängerin dann auch noch singen kann, während anderen Bands vermutlich die Puste ausgegangen wäre, kam der Fan so schnell nicht mehr aus dem Staunen heraus. Zurecht bezeichneten einige der Besucher die Band nach Ende des Events als eines der Highlights des Tages.
Eine kleine “Verschnaufpause” gab es dann zwischendurch mit einer kleinen Hommage an die guten alten Rave-Partys der 90er. DJ Sash gab ein etwa 30-minütiges DJ Set und spielte Hard Trance, wie man ihn seit Jahren in keiner Discothek mehr zu hören bekam. Da war zwar auf der Bühne nicht allzu viel zu sehen, doch vor allem für die Raver war das eine perfekte Einladung, das Tanzbein zu schwingen. Zumindest bis mit Fab Morvan von Milli Vanilli sogleich das Kontrastprogramm folgte: Mit seinem “Girl You Know It’s True” wurde es da nämlich eher romantisch und: Singen kann der Mann definitiv auch heute noch.
Über die “Fast-Headliner” Vengaboys schieden sich unterdessen allerdings die Geister: In völlig neuer Besetzung gänzlich von der damaligen Konstellation abweichend, sorgten die mit ausgefallenen Kostümen und massenhaft Spielgeld-Scheinen, die aus der Konfettikanone gefeuert wurden, für reichlich Stimmung – doch etwa 50% Coversongs entsprachen sogleich nicht den Erwartungen aller Fans. Ein “We will rock you” von Queen mag auf einer Party zwar immer für Spaß sorgen, aber eigentlich hatten sich die Fans doch eher ausschließlich eigene Songs der Band gewünscht. Und da hätte es noch reichlich Möglichkeiten gegeben, weitere alte Songs von Vengaboys zu spielen. Ganz anders dagegen Captain Jack, der ganz traditionell in seiner roten Militäruniform auftrat und die passenden hübschen Tänzerinnen gleich mit auf die Bühne nahm. Spätestens bei “Ey Yo, Captain Jack” fing die Menge prompt an zu feiern.
Eines war bei der 90er live auf Schalke allerdings auffallend: Bei den meisten Bands kam der instrumentelle Part vom Band, während ausschließlich der Gesang live vorgetragen wurde. Äußert selten war in den Pausen zu sehen, dass die Techniker ein oder mehrere Instrumente auf die Bühne trugen. Eine positive Ausnahme war dabei die italienische Band Eiffel 65: Als eine der wenigen Bands, die sich immerhin mit 2 von 3 ursprünglichen Bandmitgliedern in ihrer Heimat Italien noch aktiv auf echter Club-Tour befinden, wurde da erst einmal das Keyboard für Maury Lobina auf die Bühne getragen. Obwohl Eiffel 65 international fast nur mit ihren beiden Hits “Blue” und “Move your body” bekannt wurden, spielten Jeffrey Jey und Maury Lobina überraschenderweise sogar einige Hits für die echten eingefleischten Fans: Mit “Lucky” aus ihrem zweiten Album “Contact!” eröffneten sie ihren Auftritt – doch beim Partypublikum war sichtbar, dass viele der Besucher den Song bisher gar nicht kannten. Auch der Fanliebling “Too much of heaven” aus dem Album “Europop” sorgte beim Partyvolk für Irritationen, dafür aber für umso mehr Freude bei den langjährigen Eiffel 65-Fans. Jey und Lobina lieferten damit einen echten Vorgeschmack auf das, was Fans regelmäßig auf ihren italienischen Club-Konzerten erleben können.
Obwohl aber offiziell Alex Christensen mit seinem etwas ausgefallenen 90er Hit-Mix als Headliner der Veranstalter galt, hatten die meisten Besucher da offenbar eine völlig andere Meinung: Für die größte Begeisterung sorgte nämlich Jasmin Wagner alias “Blümchen”, die für einen Großteil des Publikums mitunter sogar der Hauptgrund war, überhaupt auf die 90er live auf Schalke zu kommen. Doch kein Wunder: Jasmin Wagner überraschte und begeisterte mit der aufwändigsten Bühnenshow, die während des gesamten Events zu sehen war. Der aufgeblasene Regenbogen im Hintergrund, meterhohe aufblasbare Pferde, eine große Menge männlicher Tänzer, die sie bei “verrückte Jungs” auf Händen über die Bühne trugen und eine ordentliche Portion Pyrotechnik hinterließen wahrlich Eindruck. Und da durften ihre größten Hits wie “Boomerang” oder “Herz an Herz” natürlich nicht fehlen – und die riesige Menge im Innenraum vor der Bühne rastete förmlich aus.
Da war das für manche Besucher zunächst seltsame Gefühl, ohne Maske in einer Menge von 40.000 Besuchern zu stehen, auch ganz schnell vergessen: Da wurde mit 4 Leuten gleichzeitig aus der gleichen Sangria-Flasche getrunken, während der Kiss-Cam wild vor der Kamera herumgeknutscht und große Gruppen, die gemeinsam zur 90er live auf Schalke kamen, lagen sich fröhlich feiernd in den Armen. Das Gefühl echter Normalität eben – ganz so, als wäre die Corona-Pandemie schon längst vorbei. Die meisten Besucher hatten das nach 2 Jahren aber auch nötig.