Die beiden Brüder Elias und Lukas sehen sich nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich, sondern verbringen wirklich jede freie Minute miteinander. Doch in letzter Zeit ist das harmonische Leben auf seltsame Weise gestört. Ihre Mutter nämlich hat sich seit der Rückkehr von einer schwerwiegenden Operation am Kopf grundlegend verändert. Sie hat offenbar eine so starke Charakterveränderung durchgemacht, dass die beiden Jungs fortan Angst vor dieser Frau haben. Mittlerweile sind sie sogar der Meinung, es handele sich nicht um ihre echte Mutter, denn das hohe Aggressionspotential wirkt überaus befremdlich. Mit ihrem extrem reizbaren Charakter wird sie regelmäßig handgreiflich gegenüber Elias und fordert ihn sogar auf, nicht mehr mit seinem Bruder Lukas zu sprechen, den sie ebenfalls konsequent ignoriert. Für die beiden Jungen steht fest: Sie müssen unbedingt herausfinden, wo ihre echte Mutter ist. Dafür fesseln und foltern sie diese sogar in ihrem eigenen Schlafzimmer. Dumm nur, dass die Wahrheit gar nicht so offensichtlich und schwer zu verkraften ist…

Kritik:
Der österreichische Produzent Ulrich Seidl ist für seine psychologisch tiefgehenden Filme längst bekannt. Auch für die berühmte „Paradies“-Trilogie zeichnet er sich verantwortlich und schafft es immer wieder, mit experimentellen Methoden seine Schauspieler zu außergewöhnlichen Charakterdarstellungen zu verhelfen. Auch bei „Ich seh, ich seh“ bleibt er diesem Stil treu und liefert uns damit sein neuestes Werk, bei welchem er seine regelmäßige Co-Autorin auf den Regiestuhl setzen konnte.

Experimentelle Distanz
So banal die Geschichte, die sich als Kammerspiel fast ausschließlich in einem einzelnen Haus abspielt, auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so undurchsichtig sind dabei auch die Handlungen. Ein zunächst nahezu normales Familienleben zeigt der österreichische Filmemacher dabei mit ganz gewöhnlichen Jungen, einer reizbaren Mutter und experimentellen Eigenschaften. Die Mutter versteckt ihr Gesicht stets hinter ihrem Verband und verhält sich überaus merkwürdig. Obwohl „Ich seh, ich seh“ dabei zunächst unspektakulär und ruhig-distanziert erscheint, macht Ulrich Seidl bereits zu Beginn einen alles entscheidenden genialen Schachzug: Er lässt den Zuschauer in einer anfänglichen Verwirrung zurück – und das ist gut so. Warum die Mutter offenbar operiert wurde, was überhaupt mit ihr los ist und wieso sie sich so seltsam verhält, lässt dieser Film jedenfalls über einen langen Zeitraum offen. Und das ist gut so, ermöglicht dies überhaupt erst eine Schlusswendung, die so definitiv niemand erwarten würde.

Subtiler Psychoterror
Das Geniale an „Ich seh, ich seh“ ist allerdings die doch sehr unnahbare und subtile Art, auf der Ulrich Seidl seine Geschichte erzählt. Eine Bedrohung ist nämlich nie richtig greifbar oder gar physisch vorhanden. Hier gibt es keine Monster, einseitige Täter oder andere Phänomene, die den Film in ein typisches Schwarz-Weiß-Muster packen. Stattdessen setzt Seidl ganz bewusst auf einen subtilen Psychoterror, wie man ihn womöglich aus Familien mit gestörten Verhältnissen kennt. Die Mutter scheint dabei das große Feindbild, das immer wieder unberechenbar auf ihre Söhne losgeht und sich zu einem echten Tyrannen entwickelt. Man kann sich als Zuschauer leicht in die Situation von Kindern hineinversetzen, die Angst vor ihrer eigenen Mutter haben, sich bedroht fühlen und sogar freiwillig im Zimmer einsperren, weil sie der aggressive bedrohliche Kontrollwahn geradezu seelisch fertig macht. Ja, man kann sogar geradezu in die Psyche eines solchen Kindes eindringen, was den Film erst so beeindruckend macht. Dass man aus dieser Konstellation heraus, die eigentlich eher auf einen Psychothriller hindeutet, am Ende dann tatsächlich einen Horrorfilm drehen kann, hat eine gewisse Faszination. Gleichzeitig aber auch eine Genialität, die erst mit der Wendung am Schluss tatsächlich zum Vorschein kommt, da sowohl das psychologische Profil, als auch jede Handlung am Ende schlüssig scheint. Ein besseres Psychogramm eines Opfers kann man letztendlich gar nicht mehr machen, wodurch bewiesen sein sollte, warum Ulrich Seidl wohl aktuell einer der genialsten Filmemacher im gesamten deutschsprachigen Raum ist.

Die echten Brüder
Funktionieren würde das allerdings nicht, wenn die Darsteller keine so hervorragenden Leistungen abliefern würden. Für exzellente Schauspielkunst muss man allerdings wohl alle drei Hauptdarsteller gleichermaßen auszeichnen, ist die Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit der Darstellung kaum mehr zu überbieten. Dabei war es sicherlich auch nicht nachteilig, dass sich die Macher dazu entschieden haben, den beiden damals zwölfjährigen Jungs nicht in fiktive Rollen zu stecken. Elias und Lukas Schwarz haben so nämlich ihre realen Namen behalten, um sich umso authentischer auch mit den Rollen identifizieren und ansprechen zu können. Das dürfte zu den großartigen Leistungen der beiden, die sich bald zu echten Psychopathen entwickeln können, reichlich beigetragen haben. Zusammen mit Susanne Wuest als Mutter geben die drei ein gelungenes Dreiergespann ab, das seinesgleichen sucht.

Fazit:
Obwohl er den Regiestuhl an seine langjährige Kollegin abgeben durfte, ist die Handschrift von Ulrich Seidl leicht zu erkennen: Mit seinem typisch subtilen Stil, genialen Charakterdarstellungen und leicht experimentellen Methoden hält er das Qualitätsniveau des österreichischen Filme ganz weit oben.

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