Bisher hatte der Lehrer Laurence ein ganz normales Leben mit seiner hübschen Freundin Frederike. Doch tief in ihm schlummert ein großes Geheimnis, das er bis heute niemandem verraten hat. Seit seiner Kindheit fühlt er sich im falschen Körper aufgewachsen, würde lieber Frauenkleider tragen und sich schminken. Die Angst vor den Reaktionen der Mitmenschen war jedoch bisher viel zu groß, um seinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Inzwischen kommt er mit dieser Last einfach nicht mehr klar, sein Körper wurde zur Qual. Laurence beschließt, fortan als Frau weiter zu leben – und schockt damit sowohl Freundin, Familie, als auch die Eltern seiner Schüler. Dumm nur, dass Laurence keineswegs schwul ist, sondern nach wie vor ausschließlich auf Frauen steht. Während er sich selbst auf Selbstfindungskurs befindet und sich nicht nur verkleiden, sondern bald auch eine Geschlechtsumwandlung durchführen will, versucht seine Freundin mit allen Mitteln, aus Liebe bei ihm zu bleiben und die Reaktionen der Mitmenschen zu ertragen. Ein Unterfangen, welches längst zum Scheitern verurteilt wurde…
Kritik:
Seitdem selbst Homosexualität für große Kontroversen in der Gesellschaft sorgt und von vollkommener Akzeptanz noch weit entfernt zu sein scheint, möchte man sich die Probleme eines Transsexuellen wohl kaum vorstellen. Ein Mann, der sich im falschen Körper geboren fühlt und sich als Frau verkleidet, gilt gemeinhin als „tuntig“ oder „unmännlich“, ja im schlimmsten Fall als psychisch krank. „Laurence Anyways“ beschäftigt sich ausgiebig mit den Problemen, Ängsten und Reaktionen eines Transsexuellen vor, während und nach seiner Verwandlung. Schwerer Stoff!
Die fehlende Normalität
Blicke, überall Blicke. Blicke auf der Straße, Blicke vom Balkon, Blicke aus dem Fenster. Denn Laurence ist nicht normal – denkt die Gesellschaft. Transsexuelle gehören definitiv längst noch nicht zur Normalität in unserem Lande, geschweige denn in anderen Ländern. Erst einmal eine solche auf der Straße entdeckt, schweifen die Blicke kaum von dieser Person ab. Angewidert und befremdlich sind die Reaktionen der Menschen, wenn Transsexuelle so manchem über den Weg laufen. Mit diesen Blicken und Reaktionen muss man nicht nur in der Realität rechnen, so beginnt auch dieser Film. Anfangs ist noch vollkommen unklar, worauf „Laurence Anyways“ damit eigentlich anspielen will, später wird das nur mehr als deutlich. Gleich danach der Sprung: Der Beginn in der Normalität, in der Laurence noch ein Mann ist und in der alles doch so einfach und tief in ihm gleichermaßen umso schwerer ist.
Der schwierige Einstieg
Der Film mit dem so kontroversen und überaus sensiblen Thema hat es nicht gerade einfach. Hier entpuppt sich kein Mainstream-Film, so mancher Zuschauer könnte sogar seine Probleme damit haben, sich tatsächlich mit der Figur zu identifizieren. Das ist nur verständlich, bekommen wir hier keinen gewöhnlichen Protagonisten zu sehen, der mit den üblichen Problemen der Menschen zu kämpfen hat. Laurence ist ein Ausgestoßener, ein Transsexueller, auf den alle herabsehen – eine Rolle, in die sich die meisten Außenstehenden kaum hineinversetzen können und die es womöglich deshalb so schwer beim Publikum hat. Doch Regisseur Xavier Dolan macht es sich auch selbst schwer. Mit dem mehr als zweieinhalbstündigen Film schießt er vielleicht über das Ziel hinaus, bringt zu viel Inhalt auf einmal in den Film hinein und macht zugleich zu große Zeitsprünge. Er will einfach alles zeigen: Vor der Verwandlung bis lange nach der Verwandlung. Dabei wäre der Streifen um einiges zugänglicher, würde er sich auf seine Stärken konzentrieren: Die Reaktionen kurz nach dem Outing und dem Beginn des Lebens als Frau.
Probleme und Ängste
Hier steigt „Laurence Anyways“ nämlich schon bald zu wahren Hochleistungen auf, für welche vor allem Laurence‘ Freundin Fred, gespielt von Suzanne Clément, zurecht die Auszeichnung als beste Darstellerin auf den Filmfestspielen von Cannes erhalten hat. Die Energie, die sie in ihre Rolle steckt und die extrem emotionalen Szenen, welche sie uns in ihrer Rolle präsentiert, sind eine wahre Wucht. Mit offenem Mund sitzt so manches Mal der Zuschauer vor dem Fernseher, wenn sie die Mitmenschen lauthals anbrüllt und ihnen ihre Fehler im Umgang mit Minderheiten anprangert. Für sie ist schließlich alles normal und zugleich auch nicht. Als Freundin des Transsexuellen hat sie womöglich mehr zu leiden, als der Betroffene selbst – muss ständig mit den Reaktionen leben und zugleich damit zu recht kommen, bald eine Frau an ihrer Seite zu haben und keinen Mann mehr. Für sie wird das bald zur Normalität, wenn sie ihn etwa fragt: „Warum kommst du so? Warum kommst du nicht normal, als Frau?“. Doch sie polarisiert in einer immer fremder werdenden Welt zwischen eigenem Paradies und den höllischen Blicken ihrer Mitmenschen.
Story: Schwerer Stoff
Einfach ist die Story von „Laurence Anyways“ sicherlich nicht. Schwer zu beurteilen scheint der Inhalt vor allem für jemanden, der nicht selbst betroffen ist. Daher kann man als Rezensent nur schwer sagen, ob der Streifen tatsächlich sensibel genug mit dem Thema umgeht. Doch auch für Außenstehende wird der Stoff entsprechend gut rüber gebracht, gesellschaftliche Kontroversen tauchen im Minutentakt auf. Nicht nur wegen der Allgemeinheit, sondern auch wegen des beruflichen Alltags für eine Transsexuelle, der schon bald unmöglich wird. Gleichzeitig spielt Melvil Poupaud seine Rolle definitiv nicht unmännlich. Er lebt bald als Frau und doch ist er ein „echter Mann“. In seiner Rolle darf er Schwächen, Tränen und Ängste zeigen – und wird gerade deshalb als Figur interessanter und zugleich stark. Man muss sich auf diesen Film aber auch einlassen können und dem schweren Stoff eine Chance geben. Denn der Inhalt ist so tiefgründig, dass „Laurence Anyways“ womöglich bald nicht mehr als Unterhaltungsfilm gelten kann.
Kunst und Musik
Xavier Dolan mag es aber scheinbar auch nicht so recht, wirklich auf den Punkt zu kommen. Nach einigen hochemotionalen Szenen, die wirklich dauerhaft im Kopf hängen bleiben, beginnt er nämlich immer wieder, deutlich vom Thema abzuschweifen. Kunstvolle Einlagen bringt er ein, in denen bunte Kleidungsstücke vom Himmel herabfallen, starke musikalische Elemente kommen hinzu, welche die Gefühlslage der Protagonisten vertiefen sollen und doch, wird der Film gerade deshalb stellenweise zäh und entwickelt Längen. Zäh deshalb, weil sich „Laurence Anyways“ auf diese Weise eindeutig künstlich in die Länge zieht und den dramaturgischen Stil nicht dauerhaft und konsequent beibehält. Dabei hat der Film so einige herausragende Szenen, sodass wir Laurence ersten Auftritt als Transsexuelle vor einer Schulklasse mit 35 Kindern nicht so schnell wieder vergessen werden. Damit ist das Drama nicht nur einen Blick wert, sondern ein Muss für jeden, der Filme mit schwierigem, kontroversem und tiefgründigem Inhalt mag. Ein Muss auch für jeden, der wirklich große Stories liebt. Doch ein mitreißendes Tempo sollte man bei diesem Film nicht erwarten und entsprechendes Sitzfleisch mitbringen.
Fazit:
Schwerer Stoff: „Laurence Anyways“ dürfte nicht nur für Kontroversen sorgen, sondern mit seiner extrem starken Story auch viele anspruchsvolle Filmfans begeistern. Leider schweift der Regisseur hin und wieder ab und zieht seinen Film künstlich und künstlerisch in die Länge.