26
Feb
Kingdom Come: Deliverance
Mittelalter ohne Fantasy
Harte und raue Zeiten hatte das Mittelalter auch im heutigen Tschechien zu bieten. Und dafür braucht es gar keine Drachen, Dämonen oder angsteinflößende Magie. Denn anders als die meisten anderen Rollenspiele, die in dieser Zeit angesiedelt sind, verzichtet „Kingdom Come: Deliverance“ vollständig auf Fantasyinhalte. Dieses Spiel sollte schließlich ein reines mittelalterliches Rollenspiel werden, das mit einer besonderen Nähe zu Realität punkten kann. Grobe Umgangsformen, herablassendes Verhalten gegenüber Frauen und dumme Kommentare gegenüber Minderheiten können also schon einmal dazu gehören, wenn das Spiel ein Leben im Jahre 1403 wiedergibt. Und tatsächlich: Den Entwicklern der Warhorse Studios ist es gelungen, eines der wohl realitätsnahesten Mittelalterszenarien umzusetzen. Und doch muss man beachten: Dokumentarische historische Korrektheit darf man trotz allem nicht erwarten. Das Spiel ist und bleibt – entgegen zahlreicher Vorwürfe von Historikern und Kritikern, die ihm vorwerfen, historische Fakten zugunsten von Rassismus zu verfälschen – eben doch Fiktion. Den Anspruch, jede damals dort anzutreffende Minderheit auch originalgetreu ins Spiel einzubauen, kann ein Entwickler angesichts eines derartigen Umfangs kaum erfüllen.
In den Fußstapfen des Hexers
Gerade bei jenem Umfang liegt nämlich auch eine der großen Stärken von „Kingdom Come: Deliverance“ und das bezieht sich nicht nur auf die etwa 16 Quadratkilometer große Spielwelt. Qualitativ gelingt es dem Rollenspiel nämlich auch, in derselben Liga mitzuspielen, die einst „The Witcher 3“ zur Genrereferenz machte. Und das betrifft auch den Umfang der Quests, die Anzahl der Charaktere, die Lebendigkeit der Spielwelt und vieles mehr. Zumal der Aufwand sicherlich nicht geringer ist, wenn man auf rein erfundene Wesen gänzlich verzichtet und eine Story komplett auf menschlichen Charakteren basierend aufbauen möchte. Man könnte angesichts dessen sogar sagen: „Kingdom Come: Deliverance“ ist das aufwändigste und umfangreichste Spiel der vergangenen Jahre. Kein Wunder also, dass Genrefans den Titel geradezu feiern und die Verkaufszahlen geradezu in die Höhe schießen. Immerhin dauert es gar ganze drei Stunden Spielzeit, ehe wir überhaupt erst das Intro zu Gesicht bekommen. Ganze hundert Stunden soll es laut Entwickler gar dauern, das gesamte Spiel vollständig durchzuspielen – und diese Zahl dürfte durchaus realistisch sein.
Schwing dein Schwert
Hinsichtlich dem Selbstanspruch an Authentizität ist das Rollenspiel aber auch nicht unbedingt zimperlich damit, auch einmal Leichen, Blut und Massaker zu zeigen. Dabei wird die Gewalt zwar nie zum Selbstzweck, aber Entwickler Warhorse Studios legt dennoch großen Wert darauf, die Spielwelt so rau und bitter zu präsentieren, wie das Mittelalter eben seinerzeit gewesen ist. Besonders stolz ist das Entwicklerteam dabei auf das außergewöhnliche Kampfsystem, das sich als so komplex entpuppt, dass es gerade deshalb schon wieder seine Schwächen hat. Hier kann man nicht einfach nur seinen Gegner angreifen, sondern das Schwert auch aus mehreren Richtungen schwingen, die optimalerweise dort sein sollte, wo der Gegner nicht sein Schwert oder Schild hält. Und am besten tricksen wir ihn gleich aus und wechseln kurz vor dem Schlag noch einmal spontan die Richtung, damit der Feind schlechter parieren kann. Das könnte sicherlich eines der detailliertesten Kampfsysteme sein, die wir je in einem Rollenspiel gesehen haben – ist damit aber auch nicht immer ganz so einfach zu beherrschen.
Entscheidungen statt Kampf
Ein Glück, dass die Kämpfe bei weitem nicht den größten Teil des Spiels ausmachen, auch wenn wir durchaus hier und da zum Schwert greifen werden. Viel wichtiger sind hingegen die Entscheidungen, die wir in „Kingdom Come: Deliverance“ fällen und die direkten Einfluss auf den Storyverlauf und die Spielwelt haben. Dabei arbeitet das Rollenspiel mit einem Rufsystem, das abhängig von der Ortschaft und den dortigen Fraktionen ist. Und dort können wir auf verschiedene Weise unsere Gunst stärken oder die Bewohner verärgern. Werden wir etwa bei einem Diebstahl auf eine Adelsperson erwischt, kann das beim Adel im jeweiligen Ort negative Folgen haben – bis hin zu dem Problem, dass der gesamte Adel womöglich nicht einmal mehr mit uns sprechen möchte, wenn der Ruf einmal etwas zu stark gesunken ist. Und da praktisch alle unsere Handlungen – jeder Diebstahl, jeder Kampf, jeder dumme Kommentar – solche Folgen haben kann, gelingt es dem Spiel, eine abgerundete lebendige Welt zu erschaffen.
Sprich nicht so mit dem Adel!
Besonders entscheidend ist dabei auch das Dialogsystem, bei dem unsere Fähigkeiten und unser Erscheinungsbild eine wichtige Rolle spielen. Es ist fast ein bisschen so, als hätte man das auf Entscheidungen basierende Dialogsystem aus diversen Telltale-Spielen in ein Rollenspiel verpackt und mit zusätzlichen Eigenschaften erweitert. Ob wir unser Gegenüber etwa durch Lügen, Drohen oder Ansehen beeinflussen können, ist nicht nur von Werten wie Rufstärke und Charisma abhängig, sondern zusätzlich auch von unserem Kleidungsstil, unserer Sauberkeit oder unserem körperlichen Ausdruck von Stärke. Die Bürger der Orte reagieren also abhängig von ihrem sozialen Status und unserer Erscheinung völlig unterschiedlich auf bestimmte Dialogoptionen und Entscheidungen – und auch hier kann ein Misserfolg unserer Überredungskünste negative Auswirkungen auf die gesamte jeweilige Fraktion haben. Ebenso aber auch umgekehrt. Das macht die Dialoge – und „Kingdom Come: Deliverance“ ist an diversen Stellen durchaus dialoglastig – ziemlich spannend und interessant. Es muss eben nicht immer nur Action sein, um den Spieler zu fesseln.
Hereingelegt durch einen NPC
Man sieht also schon sehr gut, welchen hohen Wert die Entwickler darauf legen, in eine lebendige Spielwelt eintauchen zu können. Spannend wird allerdings die Tatsache, dass sie dabei noch einmal einen oben drauf legen, denn dynamisch eingefügte Zufallsereignisse machen die Welt obendrein noch ein wenig glaubwürdiger. So kann es sein, dass wir für eine Quest etwa ein Pferd suchen, nichts ahnend einen Waldweg entlang reiten und plötzlich eine Leiche am Wegesrand sehen. Wir gehen davon aus, dass wir auf der richtigen Fährte sein müssen und die Person womöglich vom Pferd überrannt wurde. Folglich steigen wir ab, untersuchen und plündern die Leiche und siehe da: Wir sind in einen Hinterhalt geraten und werden von zwei Feinden angegriffen. Das Interessante daran: Dieses Erlebnis war nicht etwa fester Bestandteil der Quest, die wir erledigen wollten. Nach dem Laden eines Spielstandes und erneutem Aufsuchen dieser Stelle, ist die Leiche plötzlich nicht mehr da. „Kingdom Come: Deliverance“ fügt solche Ereignisse also dynamisch und zufallsgeneriert in die Welt ein, um sie spannender zu machen. Spätestens jetzt dürfte man das Rollenspiel wohl lieben gelernt haben.
Abwechslungsreiche Nebenquests
Apropos Quests: Das Erfolgsrezept der meisten herausragenden Rollenspiele liegt darin, auch die Nebenquests so interessant zu gestalten, dass wir sie freiwillig erledigen und nicht nur, um etwa Geld zu sammeln oder im Level aufzusteigen. Und auch das gelingt dem Spiel mit Bravour: Im Gegensatz zu vielen anderen Entwicklern verzichtet Warhorse Studios nämlich auf die Verwendung von immer gleichen Questmustern und bietet jeder einzelnen Nebenquest eine ganz eigene, individuelle Story. Da macht es doch gleich, viel mehr Spaß diesen nachzugehen und wir verspüren in jedem aufgesuchten Ort den Drang, doch gleich die dortigen Nebenquests auch zu erledigen – wie die Belohnung dabei aussieht, interessiert gar nicht und wird meist auch vorher nicht unbedingt verraten. Besonders gelungen ist das auch, weil „Kingdom Come: Deliverance“ manchmal darauf verzichtet, den Spieler an die Hand zu nehmen. Der genaue Zielort wird also nicht immer auf der Karte angezeigt. Hin und wieder nutzt das Spiel sogar außergewöhnliche Spielelemente zum Lösen einer Quests: So müssen wir einmal etwa Nachtigallen in einem Wald einfangen und dabei ihren Lauten lauschen. Die Soundausgabe wird also zum wichtigen Bestandteil, die Quest lösen zu können. Übrigens: Auch die Erledigung von Nebenquests kann unseren Ruf beeinflussen.
Leb mit deinen Entscheidungen
Damit wir allerdings nicht jede unserer Entscheidungen gleich wieder revidieren können, setzt „Kingdom Come: Deliverance“ auf ein ungewöhnliches und durchaus innovatives Speichersystem. Hauptsächlich gibt es also nur gelegentliche automatische Speicherpunkte, die mitunter auch mehr als eine halbe Stunde Spielzeit auseinander liegen können. Wer dazwischen speichern möchte, muss entweder schlafen gehen oder einen besonderen, stark alkoholischen Schnaps trinken. Das verhindert in erster Linie, kurz vor schwierigen Entscheidungen und Situationen speichern zu können, sodass der Spieler – mangels Lust, gleich eine halbe Stunde Spielzeit zu wiederholen – mit den Entscheidungen leben muss. Damit wird das Genre „Rollenspiel“ seinem Namen auch endlich gerecht. Das Problem dabei: „Kingdom Come: Deliverance“ ist keineswegs frei von Bugs. So kann es passieren, dass unsere Figur Heinrich etwa nicht mehr durch eine Tür gehen möchte oder eine Leiter aus dem Keller nicht hinauf klettert. Und dieses Problem lässt sich dann nur lösen, in dem wir einen älteren Spielstand laden. Nunja: Was das bedeutet, wenn das Spiel seit 30 Minuten nicht mehr gespeichert hat, sollte jedem klar sein…
Keine Zeit für den Feinschliff
Generell hätte es dem Spiel sicherlich nicht geschadet, wenn die Entwickler noch ein wenig mehr Zeit für die Beseitigung von Bugs gehabt hätten. Immerhin gibt Producer Martin Klima im eigenen Forum auch zu, dafür nicht genügend Zeit gehabt zu haben. Um es kurz zu machen: Wir hätten die volle Punktzahl bei der Wertung in Betracht gezogen, würden die zahlreichen Bugs nicht den Spielspaß immer wieder trüben – denn eigentlich sind jene Fehler auch die einzigen wirklichen Kritikpunkte an diesem Spiel und das allein ist schon bemerkenswert genug. Und klar ist auch: Bei einem derartig umfangreichen und komplexen Spiel mit einer solch großen Entscheidungsfreiheit lassen sich Bugs sicherlich eher verschmerzen, als etwa bei einem sechsstündigen Schlauchlevel-Shooter, der wesentlich einfacher zu entwickeln ist. Dennoch: Spätestens, wenn „Kingdom Come: Deliverance“ zum dritten Mal in einer Endlos-Ladeschleife fest hängt, sich fälschlicherweise dieselben Dialoge mehrfach wiederholen oder mal wieder irgendein Pferd in der Luft schwebt, wird es dann doch mitunter etwas nervtötend. Ein Glück, ist das Rollenspiel aber motivierend genug, das wegzustecken und mit dem letzten Spielstand einfach weiter zu machen. Bitter ist es dennoch, wenn man lediglich deshalb kein nahezu perfektes Spiel abliefern kann.
Augenschmaus in den Bergen
Erstaunlich ist, dass Warhorse Studios ihr neuestes Spiel unterdessen gar nicht als großen AAA-Titel betrachtet. Und das, obwohl „Kingdom Come: Deliverance“ auch optisch in der Tat mit den ganz großen Spielen mithalten kann. In den maximalen Ultra-Einstellungen entwickelt sich das Rollenspiel schließlich zu einem Augenschmaus mit beeindruckender Weitsicht. Besonders der Blick über die Berge mit dichtem Wald im Hintergrund kann sich hervorragend sehen lassen. Zumal die Entwickler auch bei den Animationen auf jedes Detail geachtet haben: Hier bewegt sich jeder Grashalm und jeder Ast mit dem Wind. Tiere jedweder Art bereichern die Landschaft – sowohl auf Bauernhöfen, als auch in der Wildnis. Beim Reiten durch eine am Boden sitzende Vogelherde fliegt diese eindrucksvoll und physikalisch korrekt davon. Selbst, wenn hier und da mal ein Pferd wegen eines Bugs in der Luft schwebt: Solche Szenen wiederum sind einfach stark.
Die flüsternden Gespräche
Schade ist, dass man in Sachen Sound leider nicht dieselbe Qualität abliefern konnte. Und das liegt nicht einmal an der durchaus gelungenen deutschen Synchronisation, die stets mit authentischen und kräftigen Stimmen daher kommt. Auch hier machen sich nämlich Bugs bemerkbar, die in diesem Fall einfach als überaus störend empfunden werden. Vor allem in den Dialogszenen kommt es schließlich immer wieder dazu, dass die Lautstärke der Sprachausgabe stark schwankt. Mal in normaler Lautstärke, der nächste Satz dann wieder im Flüsterton. Da helfen dann auch die besten Synchronsprecher leider nicht. Umso mehr schade wird das, wenn man dann zwingend auf die (einblendbaren) Untertitel angewiesen ist, um die Gesprächspartner überhaupt zu verstehen. Vermutlich dürfte aber auch das zu jenen Bugs gehören, die auf der Prioritätenliste für die nächsten Patches ganz oben stehen. Dennoch: Solche Fehler sollten bereits in der Releasefassung behoben sein.
Fazit:
Mit einem nahezu authentischen Mittelalter-Setting, einer überaus spannenden Story und einer beeindruckenden Spielwelt hat „Kingdom Come: Deliverance“ als erstes Spiel seit Jahren das Potential dazu Witcher 3 vom Rollenspiel-Thron zu stoßen. Damit hat Warhorse Studios womöglich jetzt schon das Spiel des Jahres abgeliefert, das es lediglich auf Grund seiner Bugs nicht zur Bestwertung geschafft hat.